ACCH – Arbeitskreis Christliche Corona-Hilfe

„GOTT LOBEN – DAS IST UNSER AMT!“

Warum der Gesang der Gemeinde Jesu Christi nicht verstummen darf
theologische Thesen zu einer juristischen Auseinandersetzung

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Arbeitskreis Christliche Corona-Hilfe

„Gott loben – das ist unser Amt!“

Warum der Gesang der Gemeinde Jesu Christi nicht verstummen darf
theologische Thesen zu einer juristischen Auseinandersetzung

Im Rahmen der Corona-Maßnahmen wurde den Gemeinden auf dem Verordnungswege zwischenzeitlich das gemeinsame Singen im Gottesdienst untersagt. Die Bekennende Evangelische Gemeinde Hannover (wie auch einige andere Gemeinden, z. B. die Evangelisch-Reformierte Baptistengemeinde (ERB) Frankfurt) hielt dennoch am Gesang fest und legte zugleich rechtliche Mittel gegen das Verbot ein. Dabei wurden im Rahmen der juristischen Argumentation auch die theologischen Gründe dargelegt.

1.

Der Gottesdienst ist die zentrale Lebensäußerung der Christlichen Kirche und Ausdruck ihrer Identität. Seine Dynamik erwächst aus der Dialektik von Gottes Zuwendung zum Menschen und des Menschen Ausrichtung auf Gott. Die versammelte Gemeinde (congregatio sanctorum[1]) erfährt Gottes Dienst (Genitivus subiectivus) im Hören auf die Verkündigung und im Empfang der Sakramente. Sie antwortet darauf mit ihrem eigenen Dienst für Gott (Genitivus obiectivus) durch Dank und Anbetung. Dadurch wird sie zugerüstet zum Dienst der Nächstenliebe an ihren Mitmenschen innerhalb und außerhalb der Gemeinde.

2.

Martin Luther definiert das Wesen des Gottesdienstes mit der dialektischen Formel, „dass unser lieber Herr selbst mit uns rede durch sein heiliges Wort – und dass wir wiederum mit Ihm reden durch Gebet und Lobgesang“ (Eröffnung der Torgauer Kirche, 1544). Demnach wird evangelischer Gottesdienst konstituiert durch Gottes Reden in seinem Wort (sola scriptura als Grundlage der Predigt) und die Reaktion der Gemeinde in ihren Gebeten und ihrem Gesang. Letzterer gehört somit zur genuinen Wesensbestimmung des evangelischen Gottesdienstes.[2]

3.

Die theologische Autorisierung dieses Konzeptes gründet sich auf den biblischen Befund, wonach der Apostel Paulus die christlichen Gemeinden zum gemeinsamen Gesang auffordert, welcher sowohl der Anbetung Gottes als auch der gegenseitigen Unterweisung und Ermutigung im gottesdienstlichen Vollzug dienen soll (Eph 5,19; Kol 3,16).[3] Dabei knüpft der urchristliche Gottesdienst formal an die zeitgenössischen jüdischen Synagogengottesdienste an – und bezieht sich gemeinsam mit diesen auf das Vorbild der alttestamentlichen Tempelgottesdienste.[4] Darin hatte das Singen elementare theologische Bedeutung, weshalb der Psalter nicht nur ein umfangreiches Repertoire an gottesdienstlichen Liedern tradiert, sondern darin wiederholt die Aufforderung zum gemeinsamen Gesang expliziert: „Singt dem Herrn ein neues Lied. Singet dem Herrn, alle Welt!“ (Psalm 96,1f.; vgl. 149,1 u. ö.).[5] Auch das eschatologische Gottesvolk soll nach biblischem Zeugnis sein Gotteslob als singende Gemeinde praktizieren (Offb 5,9). Der gesamtbiblische Befund weist das gemeindliche, gemeinschaftliche Singen somit als ein Wesensmerkmal und conditio sine qua non (unverzichtbare Bedingung) des authentischen Gottesdienstes aus.

4.

Deshalb hat die Reformation in ihrem Rekurs (Rückbezug) auf die urchristliche Praxis dem gemeindlichen Gesang wieder eine zentrale Rolle zugeordnet.[6] Nachdem für Jahrhunderte die musikalische Gestaltung der Gottesdienste weitgehend an Solisten und Liturgen delegiert worden war, holten die Reformatoren das Singen zurück an die Gemeindebasis. Damit standen sie vor der Aufgabe, neue Liedertexte in den jeweiligen Landessprachen zu verfassen, da die traditionellen lateinischen Verse von der Mehrheit der Gottesdienstbesucher nicht verstanden, geschweige denn mit innerer Anteilnahme mitgesungen werden konnten. Luther wurde zum „Liedermacher“, dem etwa 30 Neuschöpfungen zu verdanken sind, von denen einige die Popularität von Volksliedern erlangten (z. B. Vom Himmel hoch, da komm ich her, Ein feste Burg ist unser Gott).[7]

5.

Das gemeinsame Singen der gottesdienstlichen Gemeinde ist die zwingende Konsequenz ihres Selbstverständnisses als ein „Priestertum aller Gläubigen“: Zwischen Gott und dem einzelnen Gläubigen steht nicht ein vermittelnder Priester, vielmehr ist jeder Einzelne durch den persönlichen Glauben in die unmittelbare Verantwortung vor Gott (coram Deo) gestellt und zum Dienst berufen (gleichsam als „Laienpriester“).[8] Hier, im gemeinsamen Lied, wie in den Responsorien der gesamten Liturgie, ergreift die priesterliche Gemeinde das Wort, lobt sie ihren Herrn, verkündigt und bekennt sie seine Wirklichkeit vor der Welt. Die versammelte Gemeinde ist nicht nur empfangende, sondern auch handelnde, dienende. In ihrem kollektiven Gesang manifestiert sich die – von der Gemeinschaft getragene – persönliche Verantwortung und Beteiligung des Einzelnen. Jede Stimme zählt.

6.

Neben der ekklesiologischen Verankerung hat der Gemeindegesang eine schöpfungstheologische Begründung. In der Erfahrung gemeinsamen Singens vermittelt sich die ganzheitliche Dimension des christlichen Glaubens auf eine Weise, die über die ausschließlich verbale Kommunikation hinausgeht. Der Liederdichter Martin Rinckart (1586-1649) hat diese ganzheitliche Konzeption des Gottesdienstes in seinen berühmten Choral gefasst: „Nun danket alle (!) Gott mit Herzen, Mund und Händen.“ Das gemeinsame Singen hat für den Gläubigen eine „erhebende“ und „tröstende“ Wirkung in der einzigartigen Verbindung von Wort und Musik. Auch hier teilt die singende christliche Gemeinde eine Erfahrung, die in den alttestamentlichen Psalmen durchgängig bezeugt wird. Das aus persönlicher Überzeugung gesungene Lob Gottes und die erlebte Freude des Glaubens sind eng miteinander verbunden: „Jauchzt (ergo: „singt“) dem Herrn alle Welt, dienet dem Herrn mit Freuden, kommt vor sein Angesicht mit Frohlocken“ (Psalm 100,1; vgl. Psalm 9,3 u. ö.). Der Literaturwissenschaftler C. S. Lewis (1898-1963) hat die Bilanz seiner hermeneutischen und persönlichen Begegnung mit den Psalmen auf den Punkt gebracht: „Wenn die Psalmisten von jedermann verlangen, er solle Gott loben, tun sie nichts anderes, als was jeder tut, der von etwas redet, das ihm lieb ist. (…) Der schottische Katechismus sagt, das wichtigste Ziel des Menschen sei, ‚Gott zu preisen und sich auf immer an ihm zu freuen‘. Aber in der Ewigkeit werden wir erfahren, dass diese zwei Dinge eins sind. Mit dem Befehl, ihn zu rühmen [als singende Gemeinde, WN], lädt uns Gott zur Freude an ihm ein.“[9]

7. Fazit:

Das gemeinsame Singen der Gemeinde ist ein wesentlicher und somit unverzichtbarer, integraler Bestandteil des evangelischen Gottesdienstes. Es ist sowohl in fundamentaltheologischer als auch seelsorgerlicher Hinsicht geboten. Eine in ihrem Gewissen gebundene Gemeinde, die den gottesdienstlichen Gesang als status confessionis festhält, hat das gesamtbiblische Zeugnis, die reformatorische Theologie und die Geschichte der Kirche auf ihrer Seite. Das Verbot des Gemeindegesangs stellt darum unter allen Umständen einen massiven Eingriff in das durch Artikel 4 GG gewährte Grundrecht dar. Es verletzt „die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses“ (Abs. 1) und verwehrt die „ungestörte Religionsausübung“ (Abs. 2).

Dr. Wolfgang Nestvogel
18.02.2021 / leicht überarbeitete Fassung 30.3.2022

[1] In der Confessio Augustana, dem klassischen reformatorischen Bekenntnis von 1530, definiert dieser Begriff die Kirche als „Versammlung (congregatio) aller Gläubigen“, bei welchen das Evangelium authentisch gepredigt und die Sakramente gemäß der biblischen Bestimmung praktiziert werden (CA VII).

[2] Rudolf Stählin, Die Geschichte des christlichen Gottesdienstes von der Urkirche bis zur Gegenwart, in: Leiturgia, Bd. I., Kassel 1954, S. 1-82, v. a. S. 54-66.

[3] Vgl. ferner Hebr. 2,12.

[4] Die urchristliche Gemeinde suchte zunächst die Nähe zum Tempel (vgl. Apg 2-5), weil sie sich in heilsgeschichtlicher Kontinuität mit dem Gottesdienst des Volkes Israel sah und etwa die Psalmen auch als ihr eigenes „Gesangbuch“ verstand. (Siehe dazu Dietrich Bonhoeffer, Das Gebetbuch der Bibel. Eine Einführung in die Psalmen, Erstveröffentlichung posthum 1959.) Folgerichtig finden sich auch im Evangelischen Gesangbuch zahlreiche Psalmen, die in enger Anlehnung an die alttestamentlichen Vorlagen in Liedform übersetzt und in den Gemeindegesang integriert wurden.

[5] Weitere Beispiele bieten Psalm 33,3; 40,4; 100,4; 144,9; 150.

[6] Vgl. Rudolf Stählin, Die Geschichte des christlichen Gottesdienstes, S. 59: „Das reformatorische Kirchenlied ist zweifellos der wichtigste positive Beitrag der Reformation zur Liturgiegeschichte…“.

[7] In dieser Tradition brachte der Protestantismus weitere prägende Liederdichter hervor, die über den kirchlichen Bereich hinaus kulturgeschichtliche Bedeutung gewannen; das bekannteste Beispiel dürfte der lutherische Pfarrer Paul Gerhardt sein (1607-1676).

[8] Die klassische Entfaltung dieser Lehre findet sich bei Martin Luther: Dass eine christliche Gemeinde Macht und Recht habe… (1523), WA 11. Vgl. Markus Liebelt: Allgemeines Priestertum, Charisma und Struktur. R. Brockhaus, Witten 2000.

[9] C. S. Lewis, Das Gespräch mit Gott. Gedanken zu den Psalmen, Zürich-Köln 1981 (2. Aufl.), S. 108 ff.